Interview mit Prof. Dr. Markus Gehrlein zum Zivilprozessrecht in Zeiten des Corona-Virus


In der Corona-Krise fährt auch die Justiz ihr Programm deutlich zurück. Sitzungen finden nur statt, wenn sie keinen Aufschub dulden. Über die Aufhebung von Verhandlungsterminen und die Unterbrechung laufender Verfahren entscheiden die Gerichte unabhängig. Dabei wird eine „großzügige Ausschöpfung prozessualer Möglichkeiten“ empfohlen. Wir möchten wissen, wie sich die Corona-Krise auf die Rechtspflege auswirkt.

Prof. Gehrlein ist Richter am BGH in Karlsruhe und gehört dem insbesondere für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Zivilsenat an. Darüber ist er als Experte für das Insolvenzrecht Mitglied des Herausgeberbeirats der ZInsO.
Prof. Gehrlein ist Richter am BGH in Karlsruhe und gehört dem insbesondere für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Zivilsenat an. Darüber ist er als Experte für das Insolvenzrecht Mitglied des Herausgeberbeirats der ZInsO.

Sehr geehrter Herr Prof. Gehrlein, kann man bereits von einem Stillstand der Rechtspflege sprechen?

 

Vielleicht hier und da von einem faktischen, aber keinem rechtlichen. Ein Stillstand der Rechtspflege liegt gemäß § 245 ZPO vor, wenn infolge eines Krieges oder eines anderen Ereignisses die Tätigkeit des Gerichts aufhört. Nach dem Wortlaut der Vorschrift muss es sich um ein Ereignis handeln, welches das gleiche Gewicht wie ein Kriegszustand hat. Als Beispiel werden Epidemien genannt. Das Ereignis muss allerdings dazu führen, dass die Tätigkeit des zuständigen Gerichts – nicht etwa aller Gerichte – tatsächlich endet, das Gericht in allen seinen Funktionen über einen unabsehbaren Zeitraum tatsächlich lahmgelegt wird. Eine solche Situation muss gegenwärtig glücklicherweise nicht befürchtet werden. Es mag aber für die Zukunft nicht auszuschließen, sein, dass für ein einzelnes abgelegenes Amtsgericht infolge einer vollständigen Quarantäne die Voraussetzungen des § 245 ZPO eintreffen.

 

Wann kann der Rechtsanwalt einen Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens nach § 251 ZPO stellen?

 

Das Gericht hat gemäß § 251 ZPO das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Die Vorschrift setzt also einen Antrag beider Parteien, nicht nur einer Partei, voraus. Als zweckmäßiger Grund werden neben den ausdrücklich normierten glaubhaften Vergleichsverhandlungen sonstige Entwicklungen anerkannt, deren Ausgang den vorliegenden Rechtsstreit erledigen oder vereinfachen können. In Betracht kommt etwa die Beweisaufnahme oder die Entscheidung in einer anderen, gleichgelagerten Sache. Nach Wortlaut und Systematik bildet eine Pandemie nicht unbedingt einen Aussetzungsgrund. Immerhin wird man sagen können, dass eine Pandemie, die nicht die Voraussetzungen des § 245 ZPO erfüllt, als mildere Maßnahme Anlass für ein Ruhen des Verfahrens geben kann. Zu beachten ist allerdings, dass nach § 251 Satz 2 ZPO der Lauf von Notfristen und Rechtsmittelbegründungsfristen durch die Anordnung der Aussetzung nicht berührt wird.

Wie sollte der Rechtsanwalt aktuell mit nahenden Fristen umgehen?

 

Der Umgang mit ablaufenden Fristen sollte sich nach der konkreten Arbeitssituation des Anwalts richten. Kann er sie problemlos einhalten, sollte er seine bisherige Arbeitsweise fortsetzen. Antragsgemäß können richterliche oder gesetzliche Fristen nach § 224 Abs. 2 ZPO verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht werden. Einen erheblichen Grund kann es bedeuten, wenn beide Parteien um eine Fristverlängerung nachsuchen. Zu den erheblichen Gründen sind insbesondere Erkrankungen des Bevollmächtigten, aber auch der erkennenden Richter zu rechnen. Nicht anders ist es zu beurteilen, wenn infolge einer durch einen Unglücksfall wie eine Pandemie verursachten Kontakterschwernis nicht ordnungsgemäß vorgetragen werden kann.

 

Kann bei Versäumen einer Notfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 233 ZPO beantragt werden?

 

Ja, das ist gerade der Zweck des § 233 ZPO. Wichtig ist, dass die besonders bedeutsamen Notfristen wie die Einlegung von Berufung, sofortiger Beschwerde, Revision und Rechtsbeschwerde nicht durch gerichtliche Anordnung verlängerbar sind. Werden diese Fristen versäumt, kommt nur eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht. Über die Notfristen hinaus kann gemäß § 233 Satz 1 ZPO Wiedereinsetzung auch bei der Versäumung von Rechtsmittelbegründungsfristen, die keine Notfristen sind, beantragt werden. Eine Erkrankung von Partei oder Anwalt, ebenso eine die Kontaktaufnahme verhindernde Reisebeschränkung können Wiedereinsetzungsgründe bilden. Natürlich kommt es auf den konkreten Einzelfall an. Da die Wiedereinsetzung an strenge Erfordernisse geknüpft ist, sollte der Anwalt zur Vermeidung von Risiken alle Anstrengungen der Fristwahrung unternehmen.

 

Wie sollte der Rechtsanwalt aktuell mit nahenden Verhandlungsterminen umgehen?

 

Es ist nachvollziehbar, dass Anwalt und Mandant zur Vermeidung von Ansteckungen gerichtliche Termine nicht wahrnehmen möchten. Gemäß § 227 ZPO sind Termine aus erheblichen Gründen zu verlegen. Hierzu gehören eine Krankheit der Partei oder ihres Bevollmächtigten. Dem sollte eine Ansteckungsgefahr gleichstehen. Ebenso verhält es sich, wenn die nur mit Bahn oder Flugzeug mögliche Anreise zum Gerichtsort mit Ansteckungsgefahren verbunden ist. Es liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor, wenn das Gericht einem begründeten Aufhebungsantrag nicht entspricht.

 

Ein Mittel, Ansteckungsgefahren zu vermeiden, bildet die Möglichkeit des schriftlichen Verfahrens (§ 128 Abs. 2 ZPO). Es erfordert einen Antrag beider, nicht nur einer Partei. Die Einwilligung gilt nur für die nächste zu treffende gerichtliche Entscheidung. Sinnvoll erscheint eine solche Vorgehensweise, wenn es sich um einen unstreitigen Sachverhalt handelt und ohne Beweisaufnahme durch Urteil über eine streitige Rechtsfrage zu entscheiden ist. Die technischen Voraussetzungen einer Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung (§ 128a ZPO), gegenwärtig die am ehesten geeignete Verhandlungsform, sind leider vielerorts nicht vorhanden.

 

Welche Instrumente der Verfahrensführung gibt es in besonders dringlichen Angelegenheiten, um die Durchführung des Termins unter weitgehendstem Ausschluss von Gesundheitsgefahren durchzuführen?

 

In den typischen Eilsachen eines Arrests und einer einstweiligen Verfügung kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§§ 922, 937 ZPO). Ist eine mündliche Verhandlung obligatorisch, sollten die Gesundheitsgefahren durch Maßnahmen des Gerichtsvorstandes oder der Sitzungsleitung minimiert werden. Es sollte selbstverständlich sein, im Gerichtssaal Parteien, Bevollmächtigte, Richter und Zeugen nach Möglichkeit weiträumig zu trennen. Die interessierte Öffentlichkeit muss sich darauf einrichten, dass zwecks Abstandswahrung die Bestuhlung deutlich verringert wird.

 

Lassen Sie uns einen Blick auf Fragestellungen des Handels- und Gesellschaftsrechts werfen: Was ist zu beachten, wenn Lieferketten unterbrochen sind oder Gesellschafter Kapital nachschießen müssen, um die Liquidität zu erhalten?

 

Schuldnern, die Verbraucher oder Kleinstunternehmen sind, steht gemäß Art. 240 § 1 EGBGB in Dauerschuldverhältnissen ein temporäres Leistungsverweigerungsrecht bis 30. Juni 2020 zu, wenn sie ihre vertraglichen Pflichten aufgrund der durch die Corona-Pandemie hervorgerufenen außergewöhnlichen Verhältnisse nicht erfüllen können.

 

Worauf bezieht sich das Leistungsverweigerungsrecht des Verbrauchers?

 

Das Leistungsverweigerungsrecht besteht in Bezug auf alle wesentlichen Dauerschuldverhältnisse des Verbrauchers. Wesentlich sind solche Dauerschuldverhältnisse des Verbrauchers, die zur Eindeckung mit Leistungen der Daseinsvorsorge erforderlich sind. Hierzu zählen etwa Pflichtversicherungen, Verträge über die Lieferung von Strom und Gas oder über Telekommunikationsdienste, soweit zivilrechtlich geregelt auch Verträge über die Wasserver- und -entsorgung.

 

Unter welchen Voraussetzungen können Kleinstunternehmen die Leistung verweigern?

 

Bei Kleinstunternehmen, die ebenso schützenswert sind wie Verbraucher, ist Voraussetzung, dass das Unternehmen die Leistung nicht erbringen kann oder die Erbringung der Leistung ohne Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlagen ihres Erwerbsbetriebs nicht möglich ist.

 

Worauf bezieht sich das Leistungsverweigerungsrecht für Kleinstunternehmen?

 

Auch das Leistungsverweigerungsrecht für Kleinstunternehmen besteht in Bezug auf alle wesentlichen Dauerschuldverhältnisse des Kleinstunternehmens. Wesentlich sind solche Dauerschuldverhältnisse, die zur Eindeckung mit Leistungen zur angemessenen Fortsetzung seines Erwerbsbetriebs erforderlich sind. Auch hier gehören Pflichtversicherungen, Verträge über die Lieferung von Strom und Gas oder über Telekommunikationsdienste, soweit zivilrechtlich geregelt auch Verträge über die Wasserver- und -entsorgung zu solchen Leistungen. Mit der Einführung eines zeitlich befristeten Leistungsverweigerungsrechts bekommt der Schuldner die Möglichkeit, sowohl die Durchsetzbarkeit des Primäranspruchs zu verhindern, als auch auf diesem Wege die Entstehung von Sekundäransprüchen zu vermeiden.

 

Wie wirken sich die Schutzmaßnahmen zur Vermeidung der Ausbreitung der Pandemie auf die Handlungsfähigkeit von Unternehmen aus?

 

Diese Schutzmaßnahmen, insbesondere die Einschränkungen der Versammlungsmöglichkeiten von Personen haben zum Teil erhebliche Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit von Unternehmen verschiedener Rechtsformen, da diese teilweise nicht mehr in der Lage sind, auf herkömmlichem Weg Beschlüsse auf Versammlungen der entsprechenden Organe herbeizuführen. Dies betrifft vor allem außerordentliche Versammlungen, die aufgrund besonderer Maßnahmen erforderlich sind, insbesondere für Kapitalmaßnahmen und Umstrukturierungen. Letztere sind vor allem bei außergewöhnlichen Umständen, wie sie derzeit bestehen, möglicherweise von existenzieller Bedeutung für die betroffenen Gesellschaften. Es werden vorübergehend substantielle Erleichterungen für die Durchführung von Hauptversammlungen der Aktiengesellschaft (AG), der Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA), des Versicherungsvereins a. G. (VVaG) und der Europäischen Gesellschaft (SE) sowie für Gesellschafterversammlungen der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) geschaffen.

 

Bei der GmbH können etwa Gesellschafterbeschlüsse im schriftlichen Verfahren getroffen werden. Dies erleichtert auch Beschlüsse über eine Kapitalerhöhung, mit denen die Liquidität gesichert werden soll.

 

Zum Schluss haben wir noch einige Fragen zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf das Insolvenzrecht. Was müssen zahlungsunfähige Unternehmen bzgl. der Neuregelungen zum Insolvenzrecht, insb. dem Aussetzen der Insolvenzantragspflicht bis zum 30.09.2020, beachten?

 

Die Insolvenzantragspflicht des § 15a InsO wird gemäß § 1 Satz 1 COVInsAG bis zum 30. September 2020 suspendiert. Der Gesetzgeber verwehrt gemäß § 1 Satz 2 COVInsAG die Aussetzung der Antragspflicht, wenn die Insolvenzreife nicht auf den Folgen der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus (Covid-19-Pandemie) beruht oder wenn keine Aussichten darauf bestehen, eine bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen. Deswegen hat der Geschäftsleiter sich in doppelter Hinsicht dahingehend zu vergewissern, worauf die Insolvenzreife beruht und ob, wenn die Insolvenzreife auf die Folgen der Pandemie zurückgeht, Aussichten für eine Wiedergewinnung der Zahlungsfähigkeit und damit eine Sanierung bestehen. Ohne konkrete Sanierungsaussicht ist – da kann nicht genug betont werden – für eine Suspendierung der Antragspflicht kein Raum.

 

Wie wird die Fortführung des Unternehmens, insbesondere die Bewirkung von Zahlungen sichergestellt, wenn die Insolvenzantragspflicht vorübergehend ausgesetzt ist?

 

Um dem Geschäftsführer nach Entbindung von der Antragspflicht des § 15a InsO die Fortführung des Unternehmens und insbesondere die Bewirkung von Zahlungen zu ermöglichen, modifiziert § 2 Abs. 1 Nr. 1 COVInsAG das Haftungsprivileg des § 64 Satz 2 GmbHG, § 92 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 99 Satz 2 GenG, § 130a Abs. 1 Satz 2, § 177a HGB zugunsten der Geschäftsleiter. Zahlungen, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, insbesondere solche Zahlungen, die der Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebes oder der Umsetzung eines Sanierungskonzepts dienen, gelten als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften vereinbar. Geschäftsleiter sollen bei der Fortführung des Unternehmens nicht durch die engen Grenzen der genannten Vorschriften beschränkt werden. Sie sollen vielmehr die erforderlichen Maßnahmen ergreifen können, um das Unternehmen im ordentlichen Geschäftsgang fortzuführen. Das schließt nicht nur Maßnahmen der Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebs ein, sondern auch Maßnahmen im Zuge der Neuausrichtung des Geschäfts im Rahmen einer Sanierung.

 

Sehr geehrter Herr Prof. Gehrlein. Wir danken für das Gespräch.

Das sind die Fragen, die sich Anwälte in Deutschland jetzt stellen 

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